Mit 67 das erste Mal zu Hause |
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Salzburger Nachrichten 02.12.2006 |
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Mit den ersten Generationen von behinderten Menschen, die alt werden
durften, kommt eine Herausforderung auf die Pflege zu. Ein Besuch in
einer Wohngemeinschaft. Inge BaldingerWien (SN). Eines Tages hat er aufgehört zu schreien.
Einfach so. Da war Anton B. 67 Jahre alt - und womöglich war es der
Moment, in dem er sich zum ersten Mal in seinem Leben zu Hause gefühlt
hat. Zu Hause ist Herr B. in Wien-Favoriten, in einer der zwei vom "Haus
der Barmherzigkeit" betreuten Wohngemeinschaften für behinderte
Menschen in der Maria-Rekker-Straße. Hier
hat Herr B. sprechen gelernt. Unterdessen kann er einiges mitteilen.
"Lieb haben" zum Beispiel oder "allein sein"; "tanzen",
"essen" und "trinken"; "ja" und "nein"
... Besonders das Nein ist
Irene Holloway, Leiterin des Tageszentrums in der Maria-Rekker-Straße
wichtig. "Unsere Klienten", sagt die Behindertenpädagogin,
"sollen uns zeigen, was sie wollen und was sie nicht wollen."
Das helfe, den Menschen so zu sehen, wie er eben sei. Herr B. ist in gewisser
Weise ein Trendsetter. Nicht, weil er gerne tanzt und malt. Sondern
weil er der Vorbote eines Phänomens ist, das es bisher nicht gab und
das nun massiv auf die Gesellschaft zukommt: Herr B. gehört zur ersten
Generation von Menschen mit Behinderungen, die alt werden durften. Von
den 1700 in ganz Wien in Wohngemeinschaften lebenden geistig (und oft
auch körperlich) Behinderten sind derzeit nur 15 über 70 Jahre alt -
aber schon 170 zwischen 60 und 70. Dass Herr B. alt werden
konnte - demnächst wird er 71 - verdankt er seiner Oma. Sie hat ihn
während des NS-Massenmords der so genannten Euthanasie-Aktionen versteckt.
Sein ganzes Erwachsenenleben verbrachte er in psychiatrischen Anstalten.
War er wach, hat er ununterbrochen geschrien.
Medikamente machten, dass er möglichst wenig wach war. In der Wohngemeinschaft
in der Maria-Rekker-Straße ist Herr B. nicht
der Älteste. Das ist Frau Gertrude H., die heuer ihren 80er gefeiert
hat. Und dann sind da noch zwei Herrschaften zwischen 70 und 80. Dass auch in die Jahre
gekommene Menschen mit geistiger Behinderung in Wohngemeinschaften betreut
werden, ist relativ neu. Einer der Vorreiter war das "Haus der
Barmherzigkeit Integrations Team" (HABIT).
Seit Ende der 90er Jahre entstanden in Wien und Niederösterreich zwölf
Wohngemeinschaften mit insgesamt 120 Wohnplätzen (wobei jeder sein eigenes
Zimmer hat) plus 77 Tagesbetreuungsplätze. Wie man sich die Tagesbetreuung
vorstellen muss? Als Mischung aus gemeinsam gestalteter Zeit (Singen,
Basteln ...) und speziell auf die Tagesverfassung und die Bedürfnisse
jedes Einzelnen abgestimmten Behandlungen (Bewegung, basale
Stimulation ...). Entsprechend flexibel sind auch die Pausen: Mittagessen
gibt es ab kurz nach zwölf bis 13.30 Uhr. Das hat natürlich seinen
Preis: 24 Stunden in einer Behinderten-WG
inklusive Tagesbetreuung kosten 200 Euro. Das ist zwar nur halb so viel,
wie ein Platz in einer psychiatrischen Anstalt kosten würde - aber um
80 Euro mehr, als ein Platz im Pflegeheim pro Tag kostet. Mit entsprechend
gemischten Gefühlen sieht der Fonds Soziales Wien die "Altenbetreuung"
in Behinderten-WGs. Normalerweise wäre in Wien mit 60 Jahren
Schluss mit einer spezialisierten Betreuung - dann heißt es: Ab ins
Pflegeheim. "Wir", sagen
Irene Holloway und HABIT-Geschäftsführer Wolfgang
Waldmüller unisono, "wir wollen den Menschen Lebensqualität und
ein Zuhause bieten." Der Lohn: "Die unglaubliche Lebensfreude,
wenn sie sich endlich entfalten können. Es ist ja keiner unserer älteren
Klienten gefördert worden. Es waren andere Zeiten." Vollkommen andere Zeiten:
Wäre Gertrude H. ein kleines Mädchen, würde man von einer "Intelligenzverminderung"
sprechen und auf Frühförderung, Frühförderung, Frühförderung setzen.
Gertrude war aber in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein
kleines Mädchen. Und was dann alles im Lauf ihres langen Lebens passiert
ist oder probiert wurde, war das Gegenteil von Förderung. Vielleicht
kann Frau H. deshalb heute durchaus energisch sein. Jedenfalls sagt
sie laut und deutlich, was ihr nicht passt - auch wenn sie meistens
ein Lachen hinterherschickt. Was Frau H. besonders
mag: Kinder, Malen und gute Manieren. Womit sie aktuell unzufrieden
ist: mit dem Adventkranz. Der ist ihr nicht schön genug. Url: http://www.salzburg.com/sn/archiv_artikel.php?xm=2739248&res=0 |